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Wohngebiete brauchen mehr als bloß Tempo 30

Dieser Artikel wurde verfasst von Rachel Aldred, Dozentin für Verkehr an der Universität Westminster, und erschien ursprünglich auf der Website der britischen Zeitung „The Guardian“ im März 2016. Rachel Aldred ist auf nachhaltige Beförderungsarten spezialisiert und arbeitet auch ehrenamtlich mit der London Cycling Campaign.

Redaktionelle Mitarbeit: Daniel Pöhler und Katja Leyendecker

Langsamer Autoverkehr, wo Menschen leben, ist ein Anfang. Aber damit wirklich mehr Menschen aufs Fahrrad steigen, brauchen wir weniger Autoverkehr – und das bedeutet, Schleichwege zu beseitigen.

Eine Tempo-30-Straße in London, mit lange Autostau. Kein platz für Radfahren.

Tempo-30-Straße in London, aber trotzdem kein angenehmes Wohngebiet, weil zu viele Autos durchfahren. (Foto: Dan Kelly)

Tempo 30 in Wohngebieten ist weit verbreitet, und es ist beliebt: Aktuelle Forschung aus dem DfT (Britisches Ministerium für Verkehr) hat gezeigt, dass 73% der Menschen Tempo-30-Zonen befürworten (entspricht 20 Meilen pro Stunde). Kampagnen für sichere Straßen haben sich gelohnt, die Unterstützung wächst immer weiter.

Niedrigere Geschwindigkeiten sind nötig, um Verletzungen zu reduzieren. Aber selbst wenn Tempo 30 ordnungsgemäß durchgesetzt würde – was fraglich ist – würde dies ausreichen? Schaffen allein Tempo-30-Zonen ruhige und lebenswerte Nachbarschaften, wo viele Menschen sich dann entscheiden, zu Fuß zu gehen oder mit dem Fahrrad zu fahren? Wünschen wir uns weiterhin einen stetigen Strom von Autos in Wohnstraßen (auch wenn sie dann nur mit 30 km/h fahren), oder sollten unsere Ziele ambitionierter sein?

Im aktuellen Leitfaden der britischen Regierung und der RoSPA (Königliche Gesellschaft für Unfallverhütung) heißt es: „Es gibt ein Sicherheitsargument für die Verringerung des [Auto-] Verkehrsaufkommens, und die Möglichkeit besteht auch, dies zu umzusetzen.“ Ein langsames, großes Fahrzeug wie ein Lastwagen oder Bus kann immer noch töten, einfach wegen seiner schieren Masse.

Und es sind nicht nur große Fahrzeuge, die ein Problem darstellen. Wie die RoSPA darauf hinweist, schafft jede Autofahrt ein zusätzliches Risiko für andere, auch wenn niedrigere Geschwindigkeiten dieses Risiko reduzieren.

Mehr Autos auf Wohnstraßen bedeutet auch, dass diese Orte weniger auf den Menschen ausgerichtet sind, vor allem weniger auf Alte und Junge, die mehr Schwierigkeiten mit viel befahrenen Straßen haben und seltener ein Auto besitzen.

Eine kürzlich erschienene Studie ergab, dass die Dominanz der Autos auf Wohnstraßen die Lebensqualität junger Menschen in städtischen und ländlichen Gebieten erheblich beeinträchtigt.

Meine Kollegen am Policy Studies Institute haben den anwährenden Rückgang der unabhängigen Mobilität von Kindern untersucht, unter anderem auch das Radfahren. Sie haben festgestellt, dass Verbesserungen der Verkehrssicherheit und die Verringerung der Autoabhängigkeit notwendig sind, um die Freiheit für Kinder zurückzugewinnen.

Meine eigene Forschung stellt fest, dass viele Eltern ihren Kindern schon beim Fahrradfahren vertrauen – aber die Eltern vertrauen den Autofahrern nicht, sich vorsichtig zu verhalten. Dies wird durch Erfahrung gestützt. Oft haben Eltern beängstigende Vorfälle erlebt, selbst auf vermeintlich ruhigen Nebenstrecken – die sich als Schleichwege, also Abkürzung, der Autofahrer herausstellten.

Ein Elternteil berichtet:

„Ich musste mein Kind zwischen geparkten Autos vom Rad stoßen, um zu vermeiden, dass wir von einem Autofahrer überfahren werden, der bei hoher Geschwindigkeit aus der entgegengesetzten Richtung kam.“

In zunehmendem Maße zeigt die Erforschung solcher Beinahe-Vorfälle, dass sie einen erheblichen Einfluss auf die Verkehrsentscheidungen der Menschen haben können.

Diese Fast-Unfälle sind laut einer aktuellen Studie häufig: In 1% bis 2% aller Überholvorgänge haben Autofahrer dem Radfahrer weniger als 50 cm Abstand eingeräumt. Das bedeutet, in Wohnstraßen, die von Tausenden Fahrzeugen jeden Tag benutzt werden, erleben Radfahrer viel zu enge (und erschreckende) Überholmanöver etwa einmal pro Woche. Kein Wunder, dass Eltern ihre Kinder nicht Fahrrad fahren oder alleine über die Straße gehen lassen, in solch einem Umfeld.

Wenn es keine Schleichwege gäbe, würden viele Wohnstraßen extrem ruhig werden. Zahlen des DfT ermöglichen uns abzuschätzen, wie groß der Autoverkehr auf Wohnstraßen wäre, wenn die Straßen nicht zur Abkürzung geeignet wären: Einschließlich Lieferungen, Anwohner und Besucher würden dort nur ein paar hundert Autos am Tag fahren, oder sogar weniger. Solche Straßen könnten Umgebungen sein, wo das Auto wirklich zu Gast ist und Kinder wieder frei herumlaufen und Rad fahren können.

Vorschläge, Schleichwege einzuschränken durch den Einbau von Sperren, die den Durchgangsverkehr verhindern, können allerdings umstritten sein.

Straße in den Niederlanden, Radfahrer fahren auf einem Fahrbahn, aber es gibt ein Einschränkung, und nur Radfahrer durchfahren dürfen.

Eine ehemalige Durchgangsstraße in Assen, Niederlande. Heute ist die Straße eine Durchgangsroute nur für den Radverkehr, deshalb gibt es wenig Autoverkehr. (Foto: David Hembrow)

Ein Grund dafür ist, dass wir uns daran gewöhnt haben, überall mit dem Auto fahren zu können, wo wir möchten – auch wenn es bedeutet, dass unsere Kinder nicht mehr allein das Haus verlassen dürfen. Es gibt auch Sorgen, dass das Problem nur verschoben wird und vielleicht woanders Sicherheitsprobleme verursacht.

Neue Analysen von Verkehrsunfällen können helfen, einige dieser Ängste zu nehmen. Die Daten zeigen, dass Verletzungen von Fußgängern reduziert werden, wenn der Autoverkehr auf Hauptstraßen geführt wird statt auf Nebenstraßen. Wenn sich ein Auto innerorts auf einer Nebenstraße bewegt, steigt das Risiko für Fußgänger um rund 50% im Vergleich zu einer Hauptstraße.

Im Jahr 2014 verletzten Kraftfahrzeuge in Großbritannien 7.179 Fußgänger auf städtischen Hauptstraßen und 14.168 Fußgänger auf kleineren Stadtstraßen. Die zurückgelegte Strecke auf den beiden Straßentypen betrug 49,3 Mrd. und 64,8 Mrd. Fahrzeugmeilen.

Also, Schleichwege zu verhindern kann Verletzungen von Fußgängern reduzieren. Wenn Autofahrer die Hauptstraßen nutzen müssen, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass längere Strecken gefahren werden. Denn Schleichwege werden genutzt, um Staus zu umgehen, und nicht, um die Wegstrecke zu verkürzen. Oft reduzieren Schleichwegfahrten nicht mal die Reisezeit.

Was ist mit der Luftverschmutzung? Dr. Audrey de Nazelle, Experte für Luftqualität und aktive Fortbewegung, sagt:

„Wenn Nutzer von aktiven Fortbewegungsarten ein Straßennetz zur Verfügung haben, das vom Autoverkehr befreit ist, verringert das die gesundheitliche Belastung durch Luftverschmutzung. Das ist wichtig, denn die Inhalationsrate der Nutzer aktiver Fortbewegung ist höher ist als bei Nutzern von passiven Verkehrsmitteln.

Wenn das Autoverkehrsaufkommen in Wohngebieten verringert wird, steigt die Luftqualität auf diesen Straßen. Steigt der Autoverkehr und damit die Luftverschmutzung auf den umliegenden Hauptstraßen? Wahrscheinlich ein wenig – aber wenn wir uns anstrengen und den Autoverkehr auf vielen Wohnstraßen reduzieren, wird es insgesamt weniger Autoverkehr geben, was die Luftqualität insgesamt verbessert.“

Erfreulicherweise hat die Forschung festgestellt, dass das gesamte Autoverkehrsaufkommen in der Umgebung sich reduziert, wenn der Raum für den Autoverkehr verringert wird. Der Grund ist wahrscheinlich, dass die Menschen kürzere Wege eher zu Fuß gehen oder mit dem Rad zurücklegen, sofern die Straßen eine angenehme Umgebung darstellen.

Auch auf den Hauptstraßen sollten wir uns anstrengen, die Sicherheit und die Lebensqualität zu verbessern: Breitere Gehwege, mehr Fußgängerüberwege, Radwege, das Anpflanzen von Bäumen, Tempo 30, Luftqualitätszonen und politische Maßnahmen, die die Benutzung von Dieselmotoren reduzieren. Viele dieser Vorhaben werden beliebt sein: Es gibt zum Beispiel eine große öffentliche Unterstützung für Radwege an Hauptstraßen. Diese Maßnahmen sollten auch beinhalten, die Wohnstraßen den Anwohnern zurückzugeben, so dass sie die freie Wahl haben, zu radeln und zu Fuß zu gehen.

Eine ruhige Straße in London, GB. Autoen sind geparkt an beide Seiten der Straße. Vier Poller verhindern durchfahren per Auto.

Ein ehemaliger Schleichweg in London, preisgünstig umgewandelt. (Foto: CEoGB)

Ein Kommentar

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100%ige Trennung von Autos und Fahrrädern

Dieser Artikel wurde von David Hembrow verfasst und erschien ursprünglich in seinem englischsprachigen Blog „A View from the Cycle Path“ im April 2012.

Übersetzung: Stephen Watson
Redaktionelle Mitarbeit: Pauline Géhannin / Daniel Pöhler

Immer wieder lese ich Kommentare wie „sogar in Holland sind nicht alle Abschnitte einer Fahrradfahrt getrennt vom Kfz-Verkehr“, oder „wie in Großbritannien nutzen Radler auch in den Niederlanden die Straße“. Es wurde mir vorgeworfen, dass ich das niederländische Fahrradnetz als umfangreicher beschreibe, als es tatsächlich ist.

Solche Kommentare basieren auf einem Missverständnis, wie in den beiden Ländern Straßen geplant und verwendet werden. Dieses Missverständnis kommt normalerweise zustande, weil jemand festgestellt hat, dass es etwa 130.000 Kilometer Straßen in den Niederländern gibt, aber nur etwa 35.000 Kilometer Radwege. Das klingt natürlich, als gäbe es einen erheblichen Mangel an Radwegen.

Straße im Stadtzentrum, in der Autos verboten sind. Lade- und Lieferzeiten sind deutlich angezeigt.

Straße im Stadtzentrum, in der Autos verboten sind. Lade- und Lieferzeiten sind deutlich angezeigt.

Verkehrsruhige Straße in einem niederländischem Stadtzentrum, mit Radstreifen aber fast kein Autos.

Wird diese Straße gemeinsam benutzt? Nicht auf einer gleichen Basis – Fahrräder können durchfahren, für Autos ist es eine Sackgasse.

Die meisten Leute betrachten solche Zahlen, als ob diese 130.000 Kilometer Straßen genau das Gleiche wären wie in ihrem eigenen Land. Das ist aber nicht der Fall und die falsche Weise, diese Zahlen zu betrachten.

Niederländer radeln auf einer Mischung von Straßen und Radwegen. Das heißt aber nicht, dass Fahrradfahrer sich mit Kraftfahrzeugen oft die Straße teilen müssen.

In den letzten Jahrzehnten wurde das Netz von Auto- und Fahrradstrecken entflochten. Wenn man die Routen fürs Auto und Rad für dieselbe Start-Ziel-Kombination vergleicht, findet man in ganz vielen Fällen, dass die zwei Strecken völlig unterschiedlich sind.

Straßen im Stadtzentrum sind belebt, aber mit Fahrrädern statt Autos.

Straßen im Stadtzentrum sind belebt, aber mit Fahrrädern statt Autos.

Ein Kind fährt in der Mitte einer Fahrradstraße.

Ein Kind fährt in der Mitte einer Fahrradstraße. Einst war diese Straße eine verkehrsreiche Durchfahrtsstraße für Autos. Heute ist die Durchfahrt für Fahrräder erlaubt, nicht für Autos.

Dieses Prinzip habe ich mehrmals in meinem Blog gezeigt (auf Englisch: 1, 2, 3, 4, 5, 6). In manchen Fällen wird die Trennung zwischen Autos und Fahrrädern durch das Bauen von Radwegen erreicht. In vielen anderen Fällen aber erfolgt diese Trennung, indem Autos von der Straße entfernt werden.

In den Niederlanden zählen mittlerweile viele Straßen nicht mehr zum Netz der Autorouten. Es gibt immer noch Zugang für Autos, zum Beispiel für die Bewohner einer Straße, aber es gibt keine Durchfahrten für Autos. Deswegen sind sie überhaupt nicht von Autos dominiert. Ein Radler auf so einer Straße hat ein ähnliches Gefühl von Sicherheit wie auf einem Radweg.

Nur wenn Fahrradfahren sich nicht wie ein Extremsport anfühlt, kann es so beliebt werden wie in den Niederlanden.

In niederländischen Wohnstraßen ist Autos selten die Durchfahrt gestattet, auch wenn sie ursprünglich so geplant wurden. Deswegen kann man sie hervorragend zu Fuß oder mit dem Rad nutzen, mit einem hohen Niveau an Komfort und Sicherheit.

Wohnstraße, kein Radweg nötig, da keine Durchfahrt für Autos möglich ist.

Wohnstraße. Kein Radweg nötig, da keine Durchfahrt für Autos möglich ist. Autos werden hier geparkt, aber nicht oft benutzt.

In manchen Fällen wurde dies formalisiert, indem man „Woonerven“ (Wohngebiete) eingerichtet hat, aber viele von deren Eigenschaften finden sich auch in zahlreichen anderen Straßen, die keine Woonerven sind.

In Woonerven muss Schritttempo gefahren werden. Aber sie sind nicht die einzigen Straßen mit einer niedrigen Geschwindigkeitsbegrenzung. Eigentlich gibt es 40.000 Kilometer Straßen in den Niederlanden (ein Drittel aller Straßen) mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h oder niedriger.

Diese Senkung des Tempolimits auf den Nebenstraßen ist so umfassend wie möglich umgesetzt worden. Es ist jetzt schwer, mehr Sicherheit durch diese Methode zu schaffen, da die Straßen, die immer noch Kfz-Durchfahrten erlauben, kaum durch eine einfache Änderung der Geschwindigkeitsbegrenzung ruhiger werden.

Diese Fotos zeigen verschiedene Straßen, auf denen Radler ein ähnliches Niveau von Sicherheit haben wie auf einem Radweg – subjektiv sowie objektiv.

In einem Dorf fahren Kinder allein von der Schule zurück nach Hause, auf Straßen, die keine Durchfahrten für Autos erlauben.

In einem Dorf fahren Kinder allein von der Schule zurück nach Hause, auf Straßen, die keine Durchfahrten für Autos erlauben. Im Durchschnitt fahren Kinder allein ab acht Jahren.

Diese Prinzipien werden nicht nur in der Stadt umgesetzt – sie sind auch häufig in Dörfern und auf dem Land zu finden. Deswegen können kleine Kinder allein zur Schule und zurück radeln.

Sogar auf dem Land kann man lange Strecken auf „Straßen“ fahren und kaum einem Auto begegnen. Solche Straßen funktionieren als Durchfahrten für Fahrräder, weil sie mit Radwegen verbunden sind. Für Autos sind sie Sackgassen oder führen zu langen Umleitungen oder holprigen Straßen, die im Winter nicht geräumt werden.

Zwei Straßen parallel in dem Land – eine ist für Autos, die andere für Fahrräder, für den Zugang zu Häusern und für Landwirtschaftsfahrzeuge.

Zwischen Dörfern in den Niederländern gibt es oft zwei Straßen parallel – eine ist für Autos, die andere für Fahrräder, für den Zugang zu Häusern und für Landwirtschaftsfahrzeuge. Manchmal kann ist die Route für Autos von der Route für Fahrräder weiter entfernt.

Wegweisertafeln in einem Dorf, viele Routen sind für Fahrräder, nur eine Richtung für Autos.

Schilder in einem Dorf. Viele Routen sind für Fahrräder, nur eine Richtung für Autos.

Das Entflechten von Routen für Autos und Fahrräder hat viele Vorteile für Radfahrer: weniger Lärm und Luftverschmutzung sowie mehr Sicherheit, da es weniger Konfliktpotenzial gibt.

Radler haben ein hohes Niveau an subjektiver Sicherheit, wenn sie sich nicht mit Autos mischen müssen – aber nicht unbedingt, weil sie auf einem Radweg fahren. Straßen mit (fast) keinem Autoverkehr brauchen keinen parallelen Radweg.

Ein merkwürdig großer Anteil an Straßen in den Niederlanden haben praktisch keinen Autoverkehr. Dies ist ein Grund, weswegen 35.000 Kilometer Radwege keineswegs ein Mangel bedeuten, im Vergleich zu den 130.000 km Straßen.

Auf Straßen mit einer nennenswerten Menge an Autoverkehr kann man sich darauf verlassen, dass es einen parallelen Radweg gibt. Auf diese Art und Weise kann eine fast vollständige Trennung zwischen den verschieden Verkehrsarten erreicht werden, auch wenn die Gesamtlänge von Radwegen „nur“ ein Viertel der Gesamtlänge der Straßen ist.

Eine verkehrsreiche Straße mit getrennte Radwege.

Obwohl auf jedem Foto dieses Beitrages Fahrräder von Autos getrennt sind, ist dies das einzige Bild, wo diese Trennung durch einen Radweg erreicht wird. Diese Straße erlaubt die Durchfahrt für Kraftfahrzeuge und wird von vielen Autos genutzt. Deswegen ist ein Radweg nötig.

Der Titel dieses Beitrages ist absichtlich provokant. Er ist aber zutreffend. Folgendes ist meine Erfahrung: Wenn man Fahrrad in den Niederlanden fährt, ist man fast immer vom Autoverkehr getrennt – entweder durch einen Radweg oder auf andere Weise.

Ich bin mehrere zehntausend Kilometer in den Niederlanden Fahrrad gefahren, und bis jetzt habe ich keinen Ort gefunden, der sich so gefährlich anfühlt wie meine tägliche Pendelstrecke in Cambridge. Meine gesamte Erfahrung von aggressiven Fahrweisen in diesem Land beschränkt sich auf nur ein kleines Ereignis in fast fünf Jahren.

Dieses Entflechten des Fahrradnetzes vom Kraftfahrzeugnetz findet überall in den Niederlanden statt. Wenn es verstärkten Autoverkehr gibt, auch in Wohngebieten, fordern die Menschen einen Radweg.

Dieser Stadtplan zeigt, wie die Hauptrouten für Fahrräder von den Hauptrouten für Autos in Enschede entflochten wurden.

Dieser Stadtplan, der ursprünglich für einen Artikel von Fietsberaad über Enschede bebilderte, zeigt, wie im Großen und Ganzen die Hauptrouten für Fahrräder von den Hauptrouten für Autos in dieser Stadt entflochten wurden. In dem Artikel wird erzählt, dass auf diesen Routen die Anzahl von 2.500 Autos am Tag nicht überschritten werden darf. Das heißt, die Anzahl von Autos, die man auf einer Wohnstraße erwarten würde. Wird diese Menge überschritten, fühlt sich die Route unangenehm und bedrohlich für Radler an.

Viele Radler, die Urlaub in den Niederlanden machen, nehmen solche Konzepte nicht wahr. Es kommt häufig vor, dass Reisende berichten, dass sie wenige Probleme beim Fahrradfahren hatten, obwohl es Radwege nur auf einem Teil der Reise gab. Dies wird oft dem besserem Verhalten der Autofahrer zugeschrieben, vielleicht wegen besserer Fahrschulausbildung. Leute, die so etwas sagen, haben die „versteckte“ Politik einfach nicht bemerkt.

Straßen hier sind nicht vergleichbar mit Straßen in anderen Ländern. Die Trennung der Verkehrsarten findet auch statt, wenn es keine Radwege gibt. Die Prinzipien der Nachhaltigen Sicherheit verlangen, dass Konflikte reduziert werden. Dies zeigt sich in einer viel besserer subjektiven Sicherheit beim Radfahren.


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„Unsere Straßen sind zu schmal für Fahrradwege!“

Dieser Artikel wurde von David Hembrow verfasst und erschien ursprünglich in seinem englischsprachigen Blog „A View from the Cycle Path“ im Oktober 2014.

Übersetzung: Autofreies Kreuzberg

Ich kann schon nicht mehr zählen, wie oft mir Menschen erzählen wollen, dass die Straßen ihrer Stadt zu schmal für Fahrradwege wären. Die drei Wörter „nicht genug Platz“ werden wiederholt, als wären sie ein Mantra (siehe auch Andreas Geisel, Senator für Stadtentwicklung in Berlin in der taz.)

Viele glauben ernsthaft, dass niederländische Städte mit breiteren Straßen gebaut wurden und dass deswegen hier mehr Platz wäre als in anderen Ländern. Das stimmt natürlich überhaupt nicht. Wenn man sich ältere Städte wie Assen (über 750 Jahre alt) anschaut, findet man viele schmale Wege, wie auch in jeder anderen Stadt in anderen Ländern. Neue, breitere Straßen in den Niederlanden sind oft ähnlich breit wie neue, breite Straßen woanders. Es ist die Nutzung des zur Verfügung stehenden Raums, die sich unterscheidet, nicht die Breite der Straßen an sich.

Eine ruhige, enge Innenstadt Straße in Assen, den Niederlanden. Keine Kraftfahrzeugen hier, nur Leuten, dass zu Füß gehen oder mit dem Rad fahren.

Im Foto oben sieht man eine der Straßen in Assen (2014). Ganz eindeutig gibt es „nicht genug Platz“ für Autos. Wenn man Straßen wie diese sieht, denkt man schnell, dass hier noch nie viel Platz war und die Straße deswegen schon immer so aussah.

Eine Foto aus 1957, die gleiche Straße als oben. Zwei Spuren von Kraftfahrzeugen fahren durch die Straße, nur ein enge Gehweg an der rechts, nichts an der links.

Das stimmt aber nicht. Ein Rückblick ins Jahr 1957 zeigt, dass die gleiche Straße komplett anders aussah. Hier war eine asphaltierte, stark befahrene Durchfahrtsstraße mit Fahrzeugverkehr in beiden Richtungen. Die Lücke zwischen den beiden Gebäuden sieht schmal aus, aber sie ist tatsächlich breit genug für so viel Verkehr – solange man sich nicht daran stört, dass Fußgänger nur an wenigen Stellen kreuzen können und nur auf einer Seite sicher gehen können.

Auffallend ist auch, dass es keinen Platz für sicheres Radfahren gab. Fahrradfahrer mussten zusammen mit Lastwagen, Bussen und Autos die Straße benutzen. Inzwischen fährt auf dieser Route auch kein Bus mehr.

Eine Stadtzentrum Straße in Assen, den Niederlanden, in die 1970er. Viele Kraftfahrzeugen, durchgefahren und geparkt sind. Kraftfahrzeugen dominieren die Straße.

Stadtzentrum von Assen, 1970. Auch kein Platz für Fahrradwege. Ampeln waren zur Verkehrsregelung nötig. Fahrradfahrer mussten sich unter die Autos mischen und Fußgänger hatten wenig Platz.

Ich kann mir vorstellen, dass das vielen Lesern in anderen Ländern bekannt vorkommen wird – ähnlich wie den niederländischen Radfahrern in den 50er Jahren.

Gedemptesingel, eine Stadtzentrum Straße in Assen, den Niederlanden, in 2014. Keine Kraftfahrzeugen oder Ampeln. Heute, eine ruhige Straße nur für Radfahren, Shoppen, und Anlieger.

Der gleiche Ort, 2014. Wir brauchen keine Ampeln mehr, weil hier keine Autos mehr fahren. Auffallend ist, wie Radfahrer viel Platz auf einer separaten „Straße“ haben, neben einem einem breiten Fußgängerweg. Der Fußweg hat genug Platz auf beiden Seiten für einen speziellen Belag für Blinde.

Ein Beobachter in den 50er Jahren in den Niederlanden hätte wahrscheinlich gesagt, dass die Straße „nicht genug Platz“ für eine Fahrradspur hätte – also genau das Gleiche, was Menschen heute über ihre Straßen sagen. Und sie hätten natürlich Recht, wenn man davon ausgeht, dass sie immer die gleiche Zusammensetzung des Verkehrs zu tragen hätte wie die Straßen in Assen 1950.

Ein Foto von Assen in der 1960er Jahren. Fußgänger sind an den Rand gedrängt, während ein einsamer Radfahrer neben den Autos an der Ampel wartet.

1960er. Fußgänger werden an den Rand gedrängt, während ein einsamer Radfahrer neben den Autos an der Ampel wartet.

Also wo kam der Platz für Menschen, Fußgänger wie Radfahrer, her? Er kam von direkt unterhalb der Autos. Eine zweite Revolution auf den niederländischen Straßen war nötig, um die Dinge zu ändern. Eine Entscheidung wurde getroffen, um echte Veränderung zu erreichen. Nicht nur auf ein paar Straßen, sondern in vielen Städten und sogar im ganzen Land. Der Verkehr wurde umgeleitet, so dass Wohngebiete und Stadtzentren wieder von Menschen genutzt werden konnten.

Assen, Heute. Fußgängerweg mit gutem Fahrradzugang

Jetzt: Fußgängerweg mit gutem Fahrradzugang.

Während die Straßen von Autos dominiert wurden, ging der Fahrradverkehr in den Niederlanden stark zurück – kaum überraschend. Die Transformation der Städte drehte diese Entwicklung um. Wenn man auf diese Fotos schaut, drängt sich der Vergleich auf: wie sicher und angenehm war es damals durch Assen Fahrrad zu fahren und wie sicher und angenehm ist es jetzt?

Brinkstraat in Assen in den 1960er: Hauptverkehrsstraße für Autos und Fahrräder, zusammengemischt.

1960er: Hauptverkehrsstraße für Autos und Fahrräder.

Brinkstraat in Assen Heute: Hauptverkehrsstraße nur für Fahrräder. Keine Autos statt Anlieger.

Jetzt: Immer noch zugänglich für Autos, aber kein Hauptverkehrsweg mehr. Für Autos nicht mehr als Durchgangsstraße nutzbar, daher wird hier weniger gefahren. Immer noch viele Fahrräder, die aber keine Ampeln benötigen.

Straßenszene der 1940er: Große Kreuzung, hier noch voller als üblich wegen einer Veranstaltung. Der Verkehr staut sich.

1940er: Große Kreuzung, hier noch voller als üblich wegen einer Veranstaltung. Der Verkehr staut sich.

Assen, NL. Ein angenehmer Aufenthaltsort zum Sitzen und Flanieren. Fahrräder können frei fahren.

Jetzt: ein angenehmer Aufenthaltsort zum Sitzen und Flanieren. Fahrräder können frei fahren und es ist keine Bus-Strecke mehr.

Koopmansplein in Assen, NL, 1974. Ein Stadtplatz, ganz voll mit Autos.

1974: Das Stadtzentrum von Assen war ein Parkplatz – häufig voll belegt.

Koopmansplein in Assen, NL, 2014. Ein Stadtplatz, ruhige, angenehm, und sicher, für Bürger in jedem Alter.

Jetzt: Das Stadtzentrum von Assen ist ein Platz mit Fahrradparkplätzen und häufigen Veranstaltungen. Es gibt keinen Grund mehr, die Straßen hierher von Autos besetzen zu lassen. Kleine Kinder können alleine Fahrrad fahren, sogar hier im Stadtzentrum.

Viele Menschen glauben, dass niederländische Städte irgendwie mehr Platz hätten als andere. Wie man auf diesen Fotos sieht, ist das nicht so. Eine großflächige Planung hatte in Assen und den ganzen Niederlanden stattdessen jeder Straße einen definierten Zweck gegeben – statt alle Wege irgendwie als Durchgangsstraße für den Autoverkehr nutzbar zu machen. Der motorisierte Verkehr wurde nicht über alle Mobilitätsarten priorisiert, sondern es wurde sorgfältig überlegt, wo Autos fahren sollten und wo nicht. Stark befahrene Straßen gibt es immer noch, aber sorgfältiges Kreuzungsdesign verhindert Konflikte.

Straßen, in denen sich Fußgänger und Radfahren bewegen sollten, wurden so umgebaut, dass keine Autos mehr dort fuhren.

Als Umgehungsstraßen gebaut wurden, wurden die alten Hauptstraßen zu luxuriösen Fahrradrouten umgebaut – fast vollständig kreuzungsfrei, in der Regel durch Tunnel.

Als eine neuer Fahrradweg benötigt wurde, um Radfahrer zügig von einem neuen Wohngebiet in die Stadt zu bringen, wurde die alte Direktverbindung den Autos entwidmet und sie gezwungen, einen Umweg zu fahren.

Autofahrer werden durch ein spezielles Einbahnstraßensystem von der Innenstadt ferngehalten. Die davor am meisten befahreren Straßen der Innenstadt waren dadurch frei für Fußgänger und Radfahrer. Ein ähnliches Netzwerk von Einbahnstraßen wird in Wohngebieten genutzt.

Läden haben Fahrradparkplätze direkt vor Tür, Autoparkplätze sind notwendigerweise größer und weiter entfernt.

Wohnstraße in Assen, NL. Gestaltet nur für Anlieger, kein durchgang Kraftverkehr.

Wohngebiete wurden ähnlich behandelt, sogar die schmalsten Wege sind Radwege in beide Richtungen.

Zusammen mit einem weiten Netzwerk von qualitativ hochwertigen Fahrradwegen haben diese Änderungen dazu geführt, dass Fahrradfahrer fast zu 100% von Autofahren getrennt fahren. Fahrradrouten sind meistens von Autostraßen entkoppelt, dadurch haben Radfahrer weniger Lärm- und Abgasbelästigung, weniger Gefahr und kürzere Wege. Deswegen ist Fahrradfahren für die gesamte Bevölkerung sehr attraktiv.

Es war natürlich nicht nur Assen, sondern sondern alle niederländischen Städte, die dies taten und sie waren alle erfolgreich. Nichts hält andere Länder davon ab, es genau so zu machen. Es gibt keine bessere Zeit als jetzt, um in anderen Ländern eine ähnliche Veränderung zu beginnen!


Hembrow Fahrradinfrastruktur Studienreisen

Radinfrastruktur Studienreisen

Sehen Sie selbst, die erzielten Ergebnisse, und besuchen Sie diese Orte! David Hembrow, Autor der englischen Originalversion dieses Blogbeitrags, veranstaltet regelmäßige Studienreisen für Politiker, Planer und Aktivisten aus allen Ländern und zeigt ihnen die beste Fahrrad-Infrastruktur der Welt.

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