Dieser Artikel wurde verfasst von Rachel Aldred, Dozentin für Verkehr an der Universität Westminster, und erschien ursprünglich auf der Website der britischen Zeitung „The Guardian“ im März 2016. Rachel Aldred ist auf nachhaltige Beförderungsarten spezialisiert und arbeitet auch ehrenamtlich mit der London Cycling Campaign.
Redaktionelle Mitarbeit: Daniel Pöhler und Katja Leyendecker
Langsamer Autoverkehr, wo Menschen leben, ist ein Anfang. Aber damit wirklich mehr Menschen aufs Fahrrad steigen, brauchen wir weniger Autoverkehr – und das bedeutet, Schleichwege zu beseitigen.

Tempo-30-Straße in London, aber trotzdem kein angenehmes Wohngebiet, weil zu viele Autos durchfahren. (Foto: Dan Kelly)
Tempo 30 in Wohngebieten ist weit verbreitet, und es ist beliebt: Aktuelle Forschung aus dem DfT (Britisches Ministerium für Verkehr) hat gezeigt, dass 73% der Menschen Tempo-30-Zonen befürworten (entspricht 20 Meilen pro Stunde). Kampagnen für sichere Straßen haben sich gelohnt, die Unterstützung wächst immer weiter.
Niedrigere Geschwindigkeiten sind nötig, um Verletzungen zu reduzieren. Aber selbst wenn Tempo 30 ordnungsgemäß durchgesetzt würde – was fraglich ist – würde dies ausreichen? Schaffen allein Tempo-30-Zonen ruhige und lebenswerte Nachbarschaften, wo viele Menschen sich dann entscheiden, zu Fuß zu gehen oder mit dem Fahrrad zu fahren? Wünschen wir uns weiterhin einen stetigen Strom von Autos in Wohnstraßen (auch wenn sie dann nur mit 30 km/h fahren), oder sollten unsere Ziele ambitionierter sein?
Im aktuellen Leitfaden der britischen Regierung und der RoSPA (Königliche Gesellschaft für Unfallverhütung) heißt es: „Es gibt ein Sicherheitsargument für die Verringerung des [Auto-] Verkehrsaufkommens, und die Möglichkeit besteht auch, dies zu umzusetzen.“ Ein langsames, großes Fahrzeug wie ein Lastwagen oder Bus kann immer noch töten, einfach wegen seiner schieren Masse.
Und es sind nicht nur große Fahrzeuge, die ein Problem darstellen. Wie die RoSPA darauf hinweist, schafft jede Autofahrt ein zusätzliches Risiko für andere, auch wenn niedrigere Geschwindigkeiten dieses Risiko reduzieren.
Mehr Autos auf Wohnstraßen bedeutet auch, dass diese Orte weniger auf den Menschen ausgerichtet sind, vor allem weniger auf Alte und Junge, die mehr Schwierigkeiten mit viel befahrenen Straßen haben und seltener ein Auto besitzen.
Eine kürzlich erschienene Studie ergab, dass die Dominanz der Autos auf Wohnstraßen die Lebensqualität junger Menschen in städtischen und ländlichen Gebieten erheblich beeinträchtigt.
Meine Kollegen am Policy Studies Institute haben den anwährenden Rückgang der unabhängigen Mobilität von Kindern untersucht, unter anderem auch das Radfahren. Sie haben festgestellt, dass Verbesserungen der Verkehrssicherheit und die Verringerung der Autoabhängigkeit notwendig sind, um die Freiheit für Kinder zurückzugewinnen.
Meine eigene Forschung stellt fest, dass viele Eltern ihren Kindern schon beim Fahrradfahren vertrauen – aber die Eltern vertrauen den Autofahrern nicht, sich vorsichtig zu verhalten. Dies wird durch Erfahrung gestützt. Oft haben Eltern beängstigende Vorfälle erlebt, selbst auf vermeintlich ruhigen Nebenstrecken – die sich als Schleichwege, also Abkürzung, der Autofahrer herausstellten.
Ein Elternteil berichtet:
„Ich musste mein Kind zwischen geparkten Autos vom Rad stoßen, um zu vermeiden, dass wir von einem Autofahrer überfahren werden, der bei hoher Geschwindigkeit aus der entgegengesetzten Richtung kam.“
In zunehmendem Maße zeigt die Erforschung solcher Beinahe-Vorfälle, dass sie einen erheblichen Einfluss auf die Verkehrsentscheidungen der Menschen haben können.
Diese Fast-Unfälle sind laut einer aktuellen Studie häufig: In 1% bis 2% aller Überholvorgänge haben Autofahrer dem Radfahrer weniger als 50 cm Abstand eingeräumt. Das bedeutet, in Wohnstraßen, die von Tausenden Fahrzeugen jeden Tag benutzt werden, erleben Radfahrer viel zu enge (und erschreckende) Überholmanöver etwa einmal pro Woche. Kein Wunder, dass Eltern ihre Kinder nicht Fahrrad fahren oder alleine über die Straße gehen lassen, in solch einem Umfeld.
Wenn es keine Schleichwege gäbe, würden viele Wohnstraßen extrem ruhig werden. Zahlen des DfT ermöglichen uns abzuschätzen, wie groß der Autoverkehr auf Wohnstraßen wäre, wenn die Straßen nicht zur Abkürzung geeignet wären: Einschließlich Lieferungen, Anwohner und Besucher würden dort nur ein paar hundert Autos am Tag fahren, oder sogar weniger. Solche Straßen könnten Umgebungen sein, wo das Auto wirklich zu Gast ist und Kinder wieder frei herumlaufen und Rad fahren können.
Vorschläge, Schleichwege einzuschränken durch den Einbau von Sperren, die den Durchgangsverkehr verhindern, können allerdings umstritten sein.

Eine ehemalige Durchgangsstraße in Assen, Niederlande. Heute ist die Straße eine Durchgangsroute nur für den Radverkehr, deshalb gibt es wenig Autoverkehr. (Foto: David Hembrow)
Ein Grund dafür ist, dass wir uns daran gewöhnt haben, überall mit dem Auto fahren zu können, wo wir möchten – auch wenn es bedeutet, dass unsere Kinder nicht mehr allein das Haus verlassen dürfen. Es gibt auch Sorgen, dass das Problem nur verschoben wird und vielleicht woanders Sicherheitsprobleme verursacht.
Neue Analysen von Verkehrsunfällen können helfen, einige dieser Ängste zu nehmen. Die Daten zeigen, dass Verletzungen von Fußgängern reduziert werden, wenn der Autoverkehr auf Hauptstraßen geführt wird statt auf Nebenstraßen. Wenn sich ein Auto innerorts auf einer Nebenstraße bewegt, steigt das Risiko für Fußgänger um rund 50% im Vergleich zu einer Hauptstraße.
Im Jahr 2014 verletzten Kraftfahrzeuge in Großbritannien 7.179 Fußgänger auf städtischen Hauptstraßen und 14.168 Fußgänger auf kleineren Stadtstraßen. Die zurückgelegte Strecke auf den beiden Straßentypen betrug 49,3 Mrd. und 64,8 Mrd. Fahrzeugmeilen.
Also, Schleichwege zu verhindern kann Verletzungen von Fußgängern reduzieren. Wenn Autofahrer die Hauptstraßen nutzen müssen, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass längere Strecken gefahren werden. Denn Schleichwege werden genutzt, um Staus zu umgehen, und nicht, um die Wegstrecke zu verkürzen. Oft reduzieren Schleichwegfahrten nicht mal die Reisezeit.
Was ist mit der Luftverschmutzung? Dr. Audrey de Nazelle, Experte für Luftqualität und aktive Fortbewegung, sagt:
„Wenn Nutzer von aktiven Fortbewegungsarten ein Straßennetz zur Verfügung haben, das vom Autoverkehr befreit ist, verringert das die gesundheitliche Belastung durch Luftverschmutzung. Das ist wichtig, denn die Inhalationsrate der Nutzer aktiver Fortbewegung ist höher ist als bei Nutzern von passiven Verkehrsmitteln.
Wenn das Autoverkehrsaufkommen in Wohngebieten verringert wird, steigt die Luftqualität auf diesen Straßen. Steigt der Autoverkehr und damit die Luftverschmutzung auf den umliegenden Hauptstraßen? Wahrscheinlich ein wenig – aber wenn wir uns anstrengen und den Autoverkehr auf vielen Wohnstraßen reduzieren, wird es insgesamt weniger Autoverkehr geben, was die Luftqualität insgesamt verbessert.“
Erfreulicherweise hat die Forschung festgestellt, dass das gesamte Autoverkehrsaufkommen in der Umgebung sich reduziert, wenn der Raum für den Autoverkehr verringert wird. Der Grund ist wahrscheinlich, dass die Menschen kürzere Wege eher zu Fuß gehen oder mit dem Rad zurücklegen, sofern die Straßen eine angenehme Umgebung darstellen.
Auch auf den Hauptstraßen sollten wir uns anstrengen, die Sicherheit und die Lebensqualität zu verbessern: Breitere Gehwege, mehr Fußgängerüberwege, Radwege, das Anpflanzen von Bäumen, Tempo 30, Luftqualitätszonen und politische Maßnahmen, die die Benutzung von Dieselmotoren reduzieren. Viele dieser Vorhaben werden beliebt sein: Es gibt zum Beispiel eine große öffentliche Unterstützung für Radwege an Hauptstraßen. Diese Maßnahmen sollten auch beinhalten, die Wohnstraßen den Anwohnern zurückzugeben, so dass sie die freie Wahl haben, zu radeln und zu Fuß zu gehen.

Ein ehemaliger Schleichweg in London, preisgünstig umgewandelt. (Foto: CEoGB)