Dieser Artikel wurde von Rachel Aldred, Dozentin für Verkehr an der Universität Westminster, verfasst, und erschien ursprünglich in zwei Beiträgen in ihrem englischsprachige Blog im Juni bzw. September 2013.
Redaktionelle Mitarbeit: Andreas Hartmann
Der Autoverkehr ist für viele Menschen der Hauptgrund, sich gegen das Fahrrad zu entscheiden, und somit ein entscheidendes Hindernis für eine Zunahme des Radverkehrs.
Die meisten Menschen werden nur mit dem Fahrrad fahren, wenn ihnen ein dichtes Netz an Routen zur Verfügung steht, die entweder frei von Autoverkehr sind oder von nur wenigen Kraftfahrzeugen mit geringer Geschwindigkeit genutzt werden.
Derzeit steht vielen Menschen ein entsprechendes Netzwerk nicht zur Verfügung, so dass nur eine Minderheit die Wahlfreiheit für das Fahrrad hat. Und wir stellen außerdem fest, dass sich bestimmte Gruppen überproportional häufig gegen das Fahrrad entscheiden: z. B. Frauen, Menschenethnischer Minderheiten, Menschen mit Behinderungen, Menschen mit geringerem Einkommen.
Eine bessere Fahrradinfrastruktur zu fordern, heißt für mich also auch: für mehr Gleichheit und soziale Gerechtigkeit einzutreten.
Die „London Cycling Campaign“ sagte seine Unterstützung für dedizierte Flächen auf Hauptstraßen für den Radverkehr zu und forderte sichere Straßen, die jeden zum Radfahren einladen. Nun musste festgelegt werden, unter welchen Bedingungen Radwege baulich vom Autoverkehr getrennt werden mussten und wann es akzeptabel war, Rad- und Autoverkehr zu mischen.
Ich glaube, dass sich Radaktivisten über diese Frage im Klaren sein müssen. Denn allzu oft gewähren Planungen für den Radverkehr nur geringfügige Änderungen am Status quo.
Von Radaktivisten wird Dankbarkeit erwartet, wenn eine der seltenen Fahrradmarkierungen auf eine Nebenstraße gemalt wird, die trotzdem recht verkehrsreich ist. Oder wenn eine weiße Linie auf der Fahrbahn gezogen wird, die Menschen auf Rädern an Kreuzungen durch abbiegende Kraftfahrzeuge gefährdet. Derzeit wird dem Fahrradfahren kaum Priorität eingeräumt, auch nicht auf wichtigen Fahrradrouten. Das Fahrrad erhält nur den Raum, der übrig bleibt, wenn die Anforderungen der „anderen Verkehrsteilnehmer“ erfüllt sind – in der Regel bedeutet das, wenn die KFZ-Fahrbahnen und Parkplätze organisiert sind.
Dieses Problem ist in der Verkehrsplanung tief verwurzelt. Und obwohl viele Planer und Politiker dies ändern möchten, stehen sie jahrzehntelangem institutionellem KFZ-Verkehr gegenüber. Meistens haben diese Personen auch keine Machtpositionen inne.
In so ein politischen Kultur müssen Aktivisten eine klare und ehrgeizige Vorstellung davon haben, wie das Fahrradfahren für jeden Menschen sicher und attraktiv gestaltet werden kann. Natürlich wird nicht in jedem Fall das ideale Ergebnis erreicht werden. Aber die Definition des Idealzustands hilft uns Aktivisten – und den modernen Planern der Zukunft – nach ehrgeizigen Zielen zu streben.
Angenommen, die zuständige Verkehrsbehörde schlägt eine wichtige Radverkehrsroute entlang einer verkehrsreichen Straße (obwohl es sich hier angeblich um eine Nebenstraße handelt) vor – ohne eine Senkung des Kfz-Aufkommens. In diesem Fall müssen die Aktivisten darauf pochen, dass ein so massiver Autoverkehr auf einer Hauptradroute nicht akzeptabel ist. Sie müssen einen Radweg für diese Straße verlangen oder fordern, dass der Großteil des Autoverkehrs von dieser Straße ferngehalten wird, z. B. durch Absperrung für den motorisierten Durchgangsverkehr.
Bei der Bewertung von Plänen, von denen behauptet wird, dass sie die Situation des Radverkehrs verbessern, müssen zunächst Aufkommen und Geschwindigkeit des Kfz-Verkehrs analysiert werden. Wir dürfen die zuständigen Behörden nicht mit Plänen durchkommen lassen, die keine sicheren Radrouten für alle Menschen ermöglichen. Wir müssen dann deutlich machen, an welchen Stellen zu viele Autos fahren oder zu schnell fahren und dass die Pläne unzureichend oder unbrauchbar sind.
Unabhängig davon, ob die Lösung in der Reduzierung des Kfz-Verkehrs oder in der Zuweisung von Fläche nur für das Fahrrad liegt: Der Radverkehr benötigt optimale Lösungen und die hat er auch verdient.
Verkehrsberuhigung, Reduzierung des motorisierten Verkehrs und geschützte Räume für den Radverkehr – wenn diese Maßnahmen schlecht geplant sind, sind sie auch schlecht für den Radverkehr. Autosperren, die auch Radfahrer stoppen, Fahrbahnverengungen, durch die Auto- und Radfahrer in Konflikt geraten, schmale Radwege auf dem Gehweg: Wir alle kennen diese Beispiele und wollen sie nicht mehr sehen.
Tempo 30 allein reicht nicht
Die Akzeptanz von Tempo 30 für Straßen, in denen Menschen leben, arbeiten, spielen und Fahrrad fahren, nimmt weiter zu.
Doch auch in Tempo-30-Zonen trauen sich viele Menschen nicht, Fahrrad zu fahren, wenn ihre Strecke von vielen Autos befahren wird. Selbst wenn sich die Autofahrer an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten (was nicht immer der Fall ist), kann Radfahren immer noch beschwerlich oder gefährlich sein – Lkw töten bei Geschwindigkeiten weit unter 30 km/h. Zudem ist Radfahren auf Straßen mit hohem Kfz-Verkehrsaufkommen häufig langsam und frustrierend.
Die Aussicht, sich unter Kfz-Verkehr zu mischen, der sich mit 30 km/h fortbewegt, wird kaum Menschen motivieren, aufs Rad zu steigen. Darum müssen Radaktivisten eine Vision einer sicheren und motivierenden Infrastruktur für den Radverkehr präsentieren. Darin spielen das Kfz-Verkehrsaufkommen und die Geschwindigkeiten des Kfz-Verkehrs eine wichtige Rolle.
Im niederländischen Fahrrad-Designhandbuch „CROW“ heißt es: „Hauptfahrradrouten sind vorzugsweise nicht mit dem Autoverkehr kombiniert. Wenn es sich nicht vermeiden lässt, muss die Intensität des motorisierten Verkehrs auf maximal 2.000 PCU* pro Tag beschränkt und die Geschwindigkeit auf 30 km/h reduziert werden.“
An diesen Normen sollten wir alle vorgeschlagenen Fahrradrouten und „Verbesserungen“ für den Radverkehr auf bestehenden Routen messen. Die Vermischung von Rad- und Autoverkehr ist nur unter 30 km/h und 2.000 PCUs akzeptabel. Wenn Verkehrspläne dies nicht einhalten, sind sie nicht gut genug. Entweder muss Aufkommen und Geschwindigkeit des Kraftverkehrs reduziert werden, oder es sindbaulich getrennte Räume für den Radverkehr erforderlich.
* Nachtrag: Was bedeutet PCU? Alternative Methoden der Verkehrsmessung
PCU bedeutet Passenger Car Unit. Diese Zahl beziffert, wie viel Platz jeder Fahrzeugtyp innerhalb des Verkehrsflusses einnimmt. Ein typischer Pkw entspricht 1 PCU. Der Wert, der für Fahrräder häufig angegeben wird, lautet 0,2 PCU.
Aber eignet sich die PCU wirklich für die Beurteilung der Bedingungen für den Radverkehr? Schließlich handelt es sich um ein Maß für die Fahrbahnkapazität. Werden Radrouten also mit PCU-Werten analysiert, ergibt sich z. B. das Problem, dass jeder Lkw einen etwas höheren PCU-Wert erzielt als zwei Pkw. Gefährdungspotenzial und subjektive Gefährdung durch 100 Autos entsprechen allerdings nicht denen von 43 Lkw, auch wenn der PCU-Wert dies vorgaukelt.
In den Niederlanden dürfte dies ziemlich egal sein. Dort werden Standards häufig übertroffen – während wir in Großbritannien darum kämpfen müssen, überhaupt die absoluten Mindeststandards umzusetzen. Außerdem ist in den Niederlanden Rad- und Autoverkehr von einander getrennt.
Ich schlage vor, statt PCU dem Wert „VRU“ zu verwenden: Vehicle Risk Unit. Dieser Wert bezeichnet das Risiko von jedem Kfz-Typ für den Radverkehr. Nach Analyse der Daten für Verkehrsunfälle mit getöteten Radfahrern in London zwischen 1992 und 2006 habe ich für den Fahrzeugtyp einen VRU-Wert geschätzt. Mit diesen Zahlen können meiner Meinung nach die Auswirkungen der verschiedenen Fahrzeuge auf den Radverkehr besser erfasst werden.
Die Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle dargestellt. Zum Vergleich wird auch die PCU für jeden Fahrzeugtyp genannt. (Diese Zahlen basieren auf Daten für London von 1992 bis 2006. Auch wenn weitere Daten genauere VRU-Werte ermöglichen, handelt es sich hier wahrscheinlich um eine brauchbare erste Schätzung.)
Ich denke, dass die VRU eine gute Methode zur Berechnung des maximalen Kfz-Verkehrs darstellt, wenn es darum geht, inklusive Radinfrastrukturen zu schaffen. Sie könnte neben dem niederländischen Standard von maximal 2.000 PCU pro Tag verwendet werden. (Baulich getrennte Radwege können trotzdem auch dort eingerichtet werden, wo es nur geringen Kfz-Verkehr gibt.)
Die VRU-Methode könnte einen Mentalitätswandel bewirken, hin zu einer wirklichen Berücksichtigung des Radverkehrs bei der Verkehrsplanung.
Das sich Frauen überproportional häufig gegen deas Fahrrad entscheiden würden, geben die Zahlen der statistischen Erhebungen zumindest für Deutschland nicht her. Außer im Freizeitverkehr fahren frauen stets deutlich mehr Rad als Männer: http://www.fgsv.de/fileadmin/road_maps/GM_Einfuehrung.pdf
LikeLike
Die Daten aus London von 1992 bis 2006 zu verwenden, ist sehr fraglich. Schließlich gab es damals noch einen toten Winkel bei LKWs, der inzwischen nicht mehr existiert. Von daher dürfte die Gefährlichkeit der LKWs deutlich zurückgegangen sein. Abgesehen davon passieren tödliche LKW-Unfälle vor allem beim Abbiegen. Auf der Strecke fühlen sich LKW zwar gefährlich an, aber sie sind objektiv ungefährlich – insbesondere, wenn es mehr als eine Spur pro Richtung gibt. Wenn es wirklich darum geht, LKW-Unfälle zu reduzieren, helfen VRU und PCU nicht weiter, denn die Menge der abbiegenden LKWs an den jeweiligen Einmündungen der Straße müsste betrachtet werden und nicht die Menge der geradeausfahrenden LKW. Ampelschaltungen und Führungen im Vorfeld der Ampeln haben da eine größere Bedeutung als die Führung auf der Strecke zwischen den Knotenpunkten. Genau das ist der Grund, warum die Unfälle kaum zurückgehen: Es werden Modelle gebildet, die die komplexe Wirklichkeit nicht ansatzweise berücksichtigen. Und entsprechend wird dann Infrastruktur gebaut, die nach primitiven Indikatoren gestaltet wird. Die deutsche ERA 2020 ist da schon etwas weiter, aber setzt sich eben auch nicht durch, weil selbst Planer nicht verstehen, dass sie in der Vorauswahl einer Führungsform nicht stecken bleiben dürfen, sondern auch die folgenden Planungs- und Abwägungsschritte durchlaufen müssen.
LikeLike
Auch die Behauptung, dass sich Menschen mit geringem Einkommen gegen die Fahrradnutzung entscheiden, stimmt für Deutschland nicht, wie man hier Abbildung 4 entnehmen kann: http://daten.clearingstelle-verkehr.de/192/90/Bericht_MOP_11_12_Teil1.pdf
LikeLike